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Krebs und Emotionen
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Seit min­destens 4500 Jah­ren sind Krebs­erkran­kun­gen Ärz­ten bekannt. In der Antike (vor rund 2400 Jah­ren) erhielt die Kran­kheit, die ohne erkenn­bare Ursache im mensch­lichen Kör­per Kno­ten und Geschwül­ste wach­sen ließ, ihren Namen. Die Form man­cher Tumore erin­nerte die grie­chi­schen Ärzte an Krebs­tiere. Die Gewächse lie­ßen sich nicht behan­deln. Sie zer­stör­ten das umlie­gende Ge­webe und bil­de­ten furcht­bare Wun­den, wenn sie durch die Haut bra­chen. Aus die­ser Epoche stammt auch die erste Theo­rie zur Ent­ste­hung von Krebs. Man nahm an, dass ein Über­schuss an schwar­zer Galle und damit eine Dys­ba­lance der vier Körper­säfte - Blut, gelbe und schwarze Galle sowie Schleim – die töd­liche Krank­heit verursache.

In der Mitte des 19. Jahr­hun­derts ersetz­te die Zel­lu­lar­patho­lo­gie die antike Vier-Säfte-Lehre. Krebs wird seit­dem als Krank­heit begrif­fen, die durch Ver­ände­run­gen gesun­der Kör­per­zel­len ver­ur­sacht wird. Die­se „Ent­ar­tung“ ent­steht lokal und greift dann um sich. Die neue Krank­heits­lehre schuf die Grund­lage für die moderne Krebs­medi­zin. Durch sie ver­bes­ser­ten sich Über­lebens­chan­cen von Krebs­pa­tient:­in­nen ent­schei­dend, und immer häufi­ger wurde auch Hei­lung mög­lich. Stark gewan­delt haben sich seit­her auch die Gefühle, die uns bewe­gen, wenn wir mit Krebs kon­fron­tiert werden. Diesen Wandel und seine Aus­wir­kun­gen the­mati­siert diese vir­tuelle Aus­stellung.

Fotografie. Ausstellungsansicht, schwarz-weiß, von 1930: Blick in die Abteilung „Kampf dem Krebs“ der Schausammlung des Deutschen Hygiene-Museums. Zu sehen sind verschiedene Schautafeln, die über Krebs informieren.
Fotografie. Ausstellungsansicht, schwarz-weiß, von 1930: Blick in die Abteilung „Kampf dem Krebs“ der Schausammlung des Deutschen Hygiene-Museums. Zu sehen sind verschiedene Schautafeln, die über Krebs informieren.
Fotografie. Ausstellungsansicht, schwarz-weiß, von 1930: Blick in die Abteilung „Kampf dem Krebs“ der Schausammlung des Deutschen Hygiene-Museums. Zu sehen sind verschiedene Schautafeln, die über Krebs informieren.
Fotografie. Ausstellungsansicht, schwarz-weiß, von 1930: Blick in die Abteilung „Kampf dem Krebs“ der Schausammlung des Deutschen Hygiene-Museums. Zu sehen sind verschiedene Schautafeln, die über Krebs informieren.
Fotografie. Ausstellungsansicht, schwarz-weiß, von 1930: Blick in die Abteilung „Kampf dem Krebs“ der Schausammlung des Deutschen Hygiene-Museums. Zu sehen sind verschiedene Schautafeln, die über Krebs informieren.

Über Krebs aufklären

Fotografie, schwarz-weiß, um 1950: Das Foto zeigt einen Mann und eine Frau an einem Tisch sitzend. Der Mann schreibt, sein Blick ist gesenkt. Die Frau betrachtet ein Tinten-Kleks-Bild

Die „Krebs­­persön­lich­keit“

Gibt es einen Zu­sam­men­hang zwi­schen Emo­tio­nen und Krebs? Von der Antike bis ins 18. Jahr­hun­dert stell­ten Gelehrte einen Bezug zwi­schen Krebs­er­kran­kun­gen und der Melan­cho­lie her. Aller­dings ver­stand man in der Antike unter Melan­cho­lie etwas ande­res als heute. Der Begriff bezeich­nete nicht nur see­li­sches Empfin­den, son­dern viel­ge­stal­tige, durch die schwar­ze Galle ver­ur­sachte kör­per­lich-gei­stige Funk­tions­stö­run­gen, deren gemein­sames Symp­tom Angst, Furcht oder Trau­rig­keit war. Neue Annahmen über Körper, Psyche und (Krebs-)Krank­hei­ten ver­än­der­ten im 19. und 20. Jahr­hun­dert die Sicht auf diese Zusam­men­hänge grundlegend.

Um 1900 hatte die The­se, dass nerv­liche Erschö­pfung Krebs aus­lö­sen könne, viele Anhän­ger. Psycho­ana­ly­ti­sche Kon­zepte auf­grei­fend, dis­ku­tier­ten seit den 1910er Jahren Psycho­soma­ti­ker (ganz­heit­lich orien­tierte Medi­zi­ner, Psycho­lo­gen, Psy­chia­ter), inwie­fern ver­drängte Kon­flikte, uner­füllte Wün­sche oder Schuld­gefühle Krebs ent­stehen ließen. Dass Men­schen – vor allem Frauen – mit besonde­ren Per­sön­lich­keits­merk­malen (depressiv, gehemmt, über­an­ge­passt, unfä­hig zu authen­ti­schem Fühlen) häu­fi­ger an Krebs erkran­ken, ver­mu­te­ten Psycho­soma­ti­­ker ab den 1950er Jahren. Empi­risch belegt wurde die These von der soge­nann­ten „Krebs­per­sön­lich­keit“ letzt­end­lich nicht. In der Onko­lo­gie gilt sie heute als Irrglaube.

Fotografie, schwarz-weiß, von 1955: Das Foto zeigt einen Patienten und einen Arzt in einem Behandlungszimmer an einem Schreibtisch sitzend. Den Patienten sieht man von vorne. Der Arzt wird in einer Dreiviertelansicht von hinten gezeigt.

Über Krebs
sprechen

Im 19. Jahr­hundert galt Krebs als Vor­aus­sage eines schreck­lichen Ster­bens. Die Krebs­dia­gnose wurde den Patient:­in­nen in der Regel nicht mit­geteilt. Das Wissen, an Krebs erkrankt zu sein, so mein­ten Ärzte, beraube die Men­schen jeder Hoff­nung, zer­störe ihren Lebens­willen und ver­kürze so die ver­blei­bende erträg­liche Zeit. Im 20. Jahr­hun­dert wurden die Stim­men der Geg­ner die­ser Pra­xis immer lauter. Doch erst in den 1980er Jahren wurde es üblicher, die Dia­gnose offen zu kom­muni­zie­ren. Zuneh­mende Hei­lungs­chan­cen, sich ändernde Menschen­bilder und neue Gefühls­kon­zepte lagen der Ent­wick­lung zugrunde. Anlass für Kritik ist heute nicht mehr das Ob, son­dern das Wie der Diagnose­mit­teilung.

Christoph Wilhelm Hufeland

* 1762 in Langensalza,
† 1836 in Berlin

  • Arzt, Königlicher Leib­arzt, Ärztlicher Direk­tor der Charité, Sozial­hygie­ni­ker und Volks­erzieher
  • Vertreter der Lebens­kraft-Theorie und Begrün­der der „Lehre vom langen Leben“ (Makro­biotik)

„Ist es nicht ent­schie­den, daß Furcht, beson­ders des Todes, Angst und Schre­cken, die gefähr­lich­sten Gifte sind und die Lebens­kraft unmit­tel­bar lähmen, Hoff­nung und Muth hin­gegen die größ­ten Bele­bungs­mit­tel, die oft alle Arz­neien an Kraft über­tref­fen, ja ohne welche selbst die besten Mit­tel ihre Kraft ver­lie­ren? Der Arzt muß sich also vor allen Dingen ange­le­gen sein lassen, Hoff­nung und Muth beim Kran­ken zu erhal­ten, lieber die Sache leicht machen, alle Gefahr ver­ber­gen […] Den Tod ver­kün­di­gen, heißt, den Tod geben, und das kann, das darf nie ein Geschäft dessen sein, der bloß da ist, um Leben zu verbreiten.“

Christoph Wilhelm Hufeland, Enchi­ri­dion medicum oder Anlei­tung zur Medi­zi­ni­schen Praxis. Ver­mächt­nis einer fünf­zig­jähri­gen Erfah­rung, Berlin 1836.

Albert Moll

* 1862 in Lissa (heute Leszno),
† 1939 in Berlin

  • Arzt, Psychiater, Sexual­wissen­schaftler, scharfer Kriti­ker zeit­genös­sischer Human­experimente
  • trat für die Mit­tei­lung der Krebs­dia­gnose ein, damit Pa­tient:­innen in­for­miert in Ein­griffe und Thera­pien ein­willi­gen konnten

„Es mag dem Arzt schwer fallen, den Mann über die Unheil­bar­keit seines Leidens auf­zu­klä­ren. Es mag in scho­nen­der Weise gesche­hen, er mag ihm einen Hoff­nungs­schim­mer lassen, zumal da er beden­ken muss, dass alles Wis­sen und Vor­aus­sagen nur eine bedingte Gültig­keit hat […]. Aber eine Lüge hat der Arzt, der hier nur um ein Gut­achten ange­gan­gen wurde, nicht zu sagen […]. Es ist in sol­chem Fall auch nicht das Recht vor­han­den, eine doppel­sinnige Antwort zu geben, die oft über schmerz­liche Wahr­hei­ten hin­weg­täu­schen soll.[…] Man wird sagen, dass ein sol­ches Beneh­men des Arz­tes unmensch­lich sei. Dem­gegen­über möchte ich bemer­ken, dass auch die Auf­klä­rung des Patien­ten […] eine ärzt­liche und eine mensch­liche Pflicht ist […].“

Albert Moll, Ärzt­liche Ethik. Die Pflichten des Arz­tes in allen Bezie­hungen seiner Thätig­keit, Stuttgart 1902.

Albert Krecke

* 1863 in Salzuflen,
† 1932 in München

  • Chirurg, Schiffs­arzt und Gründer einer Privat­klinik
  • wurde von Kurt Tucholsky wegen seiner Güte geschätzt, ope­rierte neben vielen ande­ren Men­schen die Söhne von Katja und Thomas Mann

„Soll man nun einem Kran­ken, der mit der trau­ri­gen Vor­aus­sage des Kreb­ses bekannt ist, die wahre Natur seines Leidens mit­tei­len und ihn da­mit für den Rest seines Lebens zu einer nie­der­drücken­den Hoff­nungs­losig­keit ver­ur­tei­len? Manche Ärzte sagen: wir müssen den Krebs­kran­ken die Art ihres Lei­dens bekannt­geben, weil sie sonst zu der ein­zig richti­gen Behand­lung, der Ope­ra­tion, nicht über­redet werden können. […] Mir will es immer als eine Grau­sam­keit erschei­nen, wenn man den Kran­ken durch die Mit­tei­lung, er leide an Krebs, zur Ope­ra­tion zwin­gen will. […] Der größte Teil der Krebs­kran­ken kommt so spät zum Arzt, daß eine ope­ra­tive Behand­lung nicht mehr mög­lich ist. […] Wie man diesen Kran­ken täg­lich neue Hoff­nung macht, wie man sie mit Festig­keit und Zuver­sicht über die Tie­fen ihres Lei­dens und über ihre Ver­zweif­lung weg­lei­tet, das muß jedes wahren Arz­tes eifrig­ste Sorge sein.“

Albert Krecke, Vom Arzt und seinen Kranken, München 1932.

Johannes Heinrich Schultz

* 1884 in Göttingen
† 1970 in West-Berlin

  • Psychiater, Psycho­therapeut, Er­fin­der des auto­genen Trai­nings
  • befürwortete im Natio­nal­sozia­lis­mus die Ermor­dung behin­der­ter Menschen

„Heut ist der Mut zur Wahr­heit eine der wich­tig­sten Forde­run­gen unse­rer Zeit. Das neue Deutsch­land will mutige Men­schen, die auch den Mut zur Wahr­heit haben. Der deutsche Mensch soll nicht nur mutig leben, son­dern auch mutig ster­ben kön­nen. Trotz­dem wird es immer Fälle geben, wo es wie bei Kin­dern, Ner­vösen, Hysteri­schen, gei­stig Min­der­wer­ti­gen etc. nicht ange­bracht ist, die volle Wahr­heit zu sagen. Man wird da von Fall zu Fall seine Ent­schei­dung tref­fen müs­sen. „Ster­bende“ und „Ster­bende“ sind zweier­lei. […] Bei halt­losen, inner­lich brü­chi­gen Men­schen wird zwischen Arzt und Seel­sorger aus­ge­wer­tet wer­den müs­sen, was zu tun ist. Sonst gilt als Regel: Wahr­hafti­ges Ver­hal­ten sichert am besten die wahre Auto­ri­tät des Arz­tes den Kran­ken und deren Ange­höri­gen gegenüber.“

Soll man dem Kranken die volle Wahr­heit sagen? Tagung der Arbeits­gemein­schaft zwischen Ärz­ten und Geist­lichen am 2.9.1937. LAB Berlin A Rep. 003-04-03, Nr. 55.

H. D. Claus

(keine Lebens­daten bekannt,
keine Por­träts bekannt)

  • Radiologe
  • Chef­arzt des Strah­len­insti­tuts am erz­gebir­gi­schen Berg­ar­bei­ter­kranken­haus Erlabrunn

„Jeder erfahrene Geschwulst­thera­peut wird jedoch bestä­ti­gen, daß das Ver­har­ren­las­sen in wochen- und monate­langer Ungewiß­heit über das Beste­hen einer Geschwulst, eines Rezi­divs oder von Meta­sta­sen, die aus­weichende Beant­wor­tung oft wie­der­hol­ter, ent­spre­chen­der Fra­gen, bei einem intel­li­gen­ten Patien­ten, der die ver­däch­ti­gen Ver­ände­run­gen an seinem Körper auf­merk­sam ver­folgt, einem psychi­schen Terror gleich­kommt, dessen Schaden ungleich größer sein kann als der Schock, den eine geeig­nete Mit­tei­lung über das Vor­lie­gen eines bös­arti­gen Tumors aus­zu­lösen pflegt. […] Ver­sucht man, den Kranken mit durch­sich­ti­gen Redens­arten darü­ber hin­weg­zu­täu­schen, ergibt sich zwi­schen Arzt und Patient ein Span­nungs­ver­hält­nis des Miß­trauens und der Unauf­rich­tig­keit, das sich denk­bar ungün­stig nicht nur auf das Ver­hal­ten und die Ein­stel­lung des Kran­ken zu Arzt, Pflege­per­sonal und ande­ren Pa­tien­ten […] auswirkt […].“

H. D. Claus, Zu einigen prak­ti­schen Fra­gen der Meta­phy­laxe nach Strah­len­thera­pie der Geschwulst­leiden, in: Das deutsche Gesund­heits­wesen 17 (1962), 35, S. 1489-1498.

Hildegard Frieda Albertine Knef

* 1925 in Ulm
† 2002 in Berlin

  • Schauspielerin, Chanson­sängerin, Autorin
  • erfuhr 1975, dass sie Brust­krebs hatte, schrieb über ihre Erkran­kung einen Roman

„Die Gesichter meiner Bäcker­bekit­tel­ten waren zer­knirscht gewe­sen. […] ‚Es ist …‘, sprach einer, brach ab, als hätte er nach durch­warte­tem ersten und zweiten Akt das alp­traum­hafte Text­loch ent­deckt, aus dem es kein Ent­weichen gibt. ‚Es ist …‘ begann er von neuem, tapfer und mit­leid­erregend. Doch ich, als her­risch-ver­äng­stigte Haupt­rollen­träge­rin, ließ hören: ‚Sagen Sie die Wahr­heit, ich ver­lange die Wahr­heit.‘ […] Nun nick­ten sie, als hätte ich die ret­ten­de Ar­beit der ver­sagen­den Souf­fleuse über­nom­men, als hätte ich das Sig­nal gege­ben, die Weichen des Gedächt­nisses gestellt. ‚Der Gefrier­schnitt war ver­däch­tig‘, kam flüs­sig, der Satz sicher. Und der zweite: ‚Ich war im Labor, der letzte Test hat es bestä­tigt.‘ Nun ein Hüsteln, ein lang­gezo­genes ‚Ja‘, ver­has­pelt folgt: ‚Es ist ein Car­ci­nom, kirsch­groß.‘ […] Das Urteil war gesprochen.“

Hildegard Knef, Das Urteil oder Der Gegen­mensch, Wien u.a. 1975.

Fritz Meerwein

* 1922 in Basel
† 1989 in Heidelberg

  • Psychiater und Psycho­analytiker
  • bedeutender Pionier der Psycho-Onko­logie

„Die heutzutage fast all­gemeine Aner­ken­nung der Infor­ma­tions­pflicht des Arz­tes hat wesent­lich dazu bei­ge­tra­gen, die Gefahr einer Unter- oder Falsch-Infor­ma­tion der Patien­ten in diesem Sta­dium zu redu­zie­ren. […] In einer kurz nach der Erst­informa­tion anbe­raum­ten zwei­ten Kon­sul­ta­tion soll dem Patien­ten in der Regel Gelegen­heit gege­ben werden, Äng­ste, Befürch­tun­gen und Phanta­sien, […] ein­gehend mit dem erst­behan­deln­den Arzt zu bespre­chen. […] Bei sorg­fäl­ti­ger Hand­ha­bung der Informa­tions­pflicht ent­wickelt sich der Kon­takt zwischen Patient und Arzt im Ini­tial­stadium meist offen und wahr­haftig. Unter dem Ein­druck der nun ein­zu­lei­ten­den Mass­nahmen und der Erläute­rung der Thera­pie­mög­lich­keiten und -ziele durch den Arzt kann der Patient den ini­tia­len Schock und das psychi­sche Iso­la­tions- oder Weltunter­gangs­gefühl, die die Dia­gnose ‚Krebs‘ in ihm aus­gelöst haben, oft gut überwinden.“

Fritz Meerwein, Die Arzt-Patien­ten­beziehung des Krebs­kranken, in: ders. (Hg.), Ein­führung in die Psycho-Onko­logie, Bern u. a. 1981, S. 84-165.

Fotografie, schwarz-weiß, vermutlich aus den 1920er Jahren. Das Foto zeigt das Portal zur chirurgischen Poliklinik der Charité. Die schwere Holztür steht offen.
Fotografie, schwarz-weiß, vermutlich aus den 1920er Jahren. Das Foto zeigt das Portal zur chirurgischen Poliklinik der Charité. Die schwere Holztür steht offen.
Fotografie, schwarz-weiß, vermutlich aus den 1920er Jahren. Das Foto zeigt das Portal zur chirurgischen Poliklinik der Charité. Die schwere Holztür steht offen.

Den Übergang erleben

Erfahrungsbericht

Das Buch von Barbara Seuffert gehört zu einer Reihe über­wie­gend von Frauen geschrie­be­ner Erfah­rungs­berichte. Daneben erschei­nen seit den 1980er Jahren mehr und mehr Krebs­rat­geber von Psycholog:innen.

Barbara Seuffert, 2001 | Berliner Medizin­histo­risches Museum der Charité

Fotografie, schwarz-weiß, um 1910: Das Foto zeigt fünfzehn Personen in einem Operationssaal. Sie tragen OP-Kleidung, Im Vordergrund liegen OP-Instrumente auf einem Rolltisch, ferner sieht man einen Sterilisator und zwei Emaille-Schüssel mit Wasser.

Krebs operieren

Schon früh ver­such­ten Chi­rur­gen, Krebs durch Ope­ra­tio­nen zu heilen. Mit der Annahme, dass die mei­sten Krebs­arten zunächst lokal durch Ver­ände­run­gen einer Zelle ent­ste­hen, gewann die Ope­ra­tion als Heil­methode wei­tere Plausi­bi­li­tät. Denn man hoffte, Krebs zu besie­gen, indem man den ‚bös­arti­gen Herd‘ recht­zei­tig entfernte. Dank der Ein­füh­rung (1846) und der Wei­ter­entwick­lung der Nar­kose waren Chirur­gen nun in der Lage, auch tief gelegene Tumore her­aus­zu­schnei­den. Außerdem ver­bes­serte sich in der zwei­ten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts die Hygiene in den Ope­ra­tions­sälen ent­schei­dend. Die Sterb­lich­keit der ope­rier­ten Patien­tin­nen und Patien­ten ging zurück; Risi­ken von Krebs­ope­ra­tionen erschie­nen zuneh­mend vertretbar.

Gebärmutter-
halskrebs
1907
Darmkrebs
1913
Prostata-
krebs
1987
Nachweise

Patient:innen-
Geschichten

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1907

Operation bei
Gebär­mutter­hals­krebs

Die Krankengeschichte
von Auguste B.

Am 26. Mai 1907 trat Auguste B. in die Frauen­klinik ein.

Obwohl die 59-Jäh­ri­ge seit elf Jah­ren keine Pe­rio­de mehr hat­te, waren im Ja­nuar und Fe­bru­ar Blu­tun­gen auf­ge­tre­ten. Bald darauf schmerz­te ihre lin­ke Unter­leibs­seite.

Anfang Mai setz­ten er­neut Blu­tun­gen ein; die Schmer­zen wur­den im­mer stär­ker. Die ge­schil­der­ten Be­schwer­den be­un­ruhig­ten den Gynä­ko­logen.

Eine ein­gehen­de Unter­suchung be­stä­tig­te: Auguste B. litt an Ge­bär­mut­ter­hals­krebs in einem fort­ge­schrit­te­nen Sta­dium.

Schwarzweißfotografie: Universitäts-Frauenklinik in Berlin, vor 1906

Abb. 1/4 Uni­ver­si­täts-Frauen­klinik in Berlin, vor 1906

Der Tumor war bereits groß.

Er war schon in die Harn­blase und in die Scheide der Patien­tin gewachsen. Dieser Befund zer­stör­te jede Aus­sicht auf Heilung.

Dennoch ent­schie­den sich die Ärzte zur Ope­ra­tion, wohl­wis­send, dass diese selbst hoch­riskant war.

Ein Volon­tär­arzt recht­fer­tigte die Ent­schei­dung rück­bli­ckend in einem wis­sen­schaft­lichen Bei­trag: Chi­rur­gen müss­ten Ope­ra­tions­tech­ni­ken einüben, um sie zum Wohl spä­te­rer Patien­tin­nen per­fek­tio­nie­ren zu können.

Medizinische Zeichnung: Technik Beckenausräumung

Abb. 2/4 Medizinische Zeich­nung: Technik Becken­ausräumung

Die Operation dauer­te ander­thalb Stunden.

Auguste B. wurde die Gebär­mutter und ein Drü­sen­paket ent­nom­men. Beim Versuch, den Tumor von der hin­teren Becken­wand zu lösen, zerfiel dieser.

Am Tag nach der Ope­ra­tion krümmte sich die 59-Jäh­rige vor Schmer­zen, konnte sich kaum bewe­gen und über­gab sich stän­dig. Hohes Fieber kam hinzu.

Ärzte und Pflege­kräfte erkann­ten sofort: Die Patien­tin litt an einer Ent­zün­dung der Bauch­höhle – bei diesem Ein­griff damals eine häu­fige und gefürch­tete post­ope­ra­tive Kom­pli­ka­tion.

Schwarzweißfotografie: Aseptischer Operationssaal, um 1910

Abb. 3/4 Asep­tischer Ope­rations­saal, um 1910

Auguste B. verstarb an einer Infek­tion, nicht an Krebs.

Zwar wuschen sich Chirur­gen vor jedem Ein­griff die Hände und benutz­ten steri­les Opera­tions­besteck; auch die Haut der Patien­tin­nen wurde gründ­lich gerei­nigt, und man operierte nicht mehr in vollen Hör­sälen, son­dern in sepa­raten, asep­ti­schen Räumen.

Die mikro­bio­lo­gi­sche For­schung hatte ein­drück­lich gezeigt, wie ent­schei­dend Sauber­keit und Steri­li­tät im Opera­tions­saal waren.

Trotzdem ver­star­ben 1907 bei der Ent­fer­nung der Gebär­mutter noch 20 Prozent der Patien­tin­nen an einer opera­tions­beding­ten Infek­tion oder ande­ren Kompli­kationen.

Schwarzweißfotografie: OP-Demonstration im Hörsaal, vor 1905

Abb. 4/4 OP-Demonstration im Hörsaal, vor 1905

1913

Behandlung von
Darmkrebs

Die Krankengeschichte
von Wilhelm K.

Ende November 1913 ging Wilhelm K. zu einem nieder­gelas­senen Hausarzt.

Seit einigen Wochen hatte er starke Bauch­schmer­zen, war stän­dig müde und fühlte sich erschöpft.

Der Arzt unter­suchte ihn gründ­lich und empfahl seinem Patien­ten sodann, eine Klinik aufzusuchen.

Seinen Ver­dacht, Wilhelm K. könne an Krebs erkrankt sein, behielt der Arzt für sich. Er wollte Wilhelm K. nicht beunruhigen.

Schwarzweißfotografie: zweite Medizinische Klinik der Charité, um 1910

Abb. 1/7 Charité, II. Medizi­nische Klinik, 1909/10

Am 3. Dezem­ber 1913 gegen 9 Uhr traf der Patient in der Chi­rur­gie der Charité ein.

Das große Gebäude, der Geruch nach Des­infek­tions­mit­teln und die langen, kahlen Gänge mit der beklem­men­den Beschil­de­rung schüch­ter­ten den 59-Jähri­gen ein.

Er war auf­ge­regt, und Angst stieg in ihm hoch.

Als ein abge­deck­ter Patient auf einer Bahre an ihm vor­bei getra­gen wurde, hätte Wilhelm K. das Kran­ken­haus am lieb­sten gleich wieder verlassen.

Schwarzweißfotografie: Krankenhausaufnahme der Charité, von 1910

Abb. 2/7 Charité, Kranken­haus­aufnahme, 1910

Im Kranken­haus wurde Wilhelm K. umfas­send untersucht.

Die Diagnostik schloss bereits Rönt­gen­auf­nah­men ein und bestä­tigte den Ver­dacht: Wilhelm K. hatte Darm­krebs.

Er wurde in einen Kran­ken­saal der Chi­rur­gie gebracht, in dem schon sie­ben andere Patien­ten lagen - im Medi­zi­ner­jar­gon der damali­gen Zeit: drei Knochen­brüche, eine Blind­darm­ent­zün­dung, eine Bauch­schuss­ver­letzung, zwei Amputationen.

Ärzte ver­mie­den es, an Krebs erkrankte Neu­zu­gänge mit operier­ten Krebs­kran­ken zusam­men­zu­legen. Sie soll­ten durch Opera­tions­schilde­run­gen nicht beun­ruhigt werden. Ver­äng­stigte Patien­ten brauch­ten stär­kere Nar­ko­sen, die das Risiko der Opera­tion erhöhten.

Schwarzweißfotografie: Röntgenuntersuchung in Berlin, von 1912

Abb. 3/7 Röntgenuntersuchung in Berlin, 1912

Auch im Kranken­haus erfuhr Wilhelm K. nicht, woran er litt.

Die Ärzte teil­ten ihm ledig­lich mit, an wel­chem Organ er ope­riert werden würde.

Über die Schwere des Ein­griffs wurde er eben­falls nicht auf­ge­klärt. Bis­wei­len konn­ten Ärzte diese vor der Ope­ra­tion selber nicht rich­tig ein­schät­zen. Röntgen­bilder waren damals oft uneindeutig.

Der Chirurg ent­nahm dem nar­ko­ti­sier­ten Patien­ten ver­däch­ti­ges Gewebe, das im Insti­tut für Patho­lo­gie anschlie­ßend unter­sucht wurde. Die Dia­gnose bestä­tigte sich, und die Ärzte ent­schie­den sich zu einer radi­ka­len Operation.

Schwarzweißfotografie: Aseptischer Operationssaal der Charité, um 1910

Abb. 4/7 Charité, Asep­tischer Opera­tions­saal, um 1910

Wilhelm K. erwachte aus der Nar­kose in einem veränder­ten Körper.

Er hatte nun einen künst­lichen Darm­ausgang, eine Öffnung in der Bauch­wand, die der Aus­lei­tung der Aus­schei­dun­gen diente.

Er war bestürzt. Nie­mand hatte ihn darauf vor­be­rei­tet. Und er fragte sich, wie der Ein­griff sein Leben ver­än­dern würde.

Bewusst hatten die behan­deln­den Ärzte den Kran­ken nicht in ihre Ent­schei­dun­gen ein­be­zogen. Das Wis­sen, so meinten sie, würde Patien­ten und Patien­tin­nen unnö­tig erschre­cken. Vor voll­en­dete Tat­sachen gestellt, würden sie sich mit der Wirk­lich­keit abfinden.

Schwarzweißfotografie: Krankensaal der Charité, von 1909

Abb. 5/7 Charité, Kranken­saal, 1909

„Geheilt“ entlassen?

Nach der Ent­las­sung aus dem Kran­ken­haus musste Wilhelm K. lernen, mit einem künst­li­chen Darm­aus­gang zu leben.

Die Stuhl­in­kon­ti­nenz ließ sich durch strenge Diät und täg­liche Ein­läufe eini­ger­maßen beherr­schen. Unkon­trol­lier­bar waren die Gase, wes­halb er sich kaum noch in Gesell­schaft begab.

Regel­mäßig ging er zur Nach­unter­suchung. Die Ärzte rechne­ten mit Rezi­diven oder Meta­sta­sen, doch auch davon sagten sie Wilhelm K. nichts. Nach Ope­ra­tio­nen, so ihre Aus­kunft, könn­ten sich bis­wei­len gut­artige Geschwüre bilden, die schnell behan­delt werden sollten.

Schwarzweißfotografie: Eingangshalle der zweiten medizinischen Klinik der Charité, um 1910

Abb. 6/7 Eingangshalle, Charité, II. Med. Klinik, um 1910

Wilhelm K. ist ein fiktiver Patient.

Doch solche Erfahrun­gen mach­ten zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts viele reale Krebs­patien­ten und -patien­tinnen in ähn­licher Form.

Ärzte ließen sie meistens im Unkla­ren über ihre Krank­heit und klär­ten sie nur sehr vage über Ope­ra­tions­for­men und deren Folgen auf.

Im Bestreben, Patien­ten und Patien­tin­nen um jeden Preis vor dem Krebs­tod zu retten, schöpf­ten sie die neuen medizi­ni­schen Mög­lich­keiten voll aus. Die Frage nach der Quali­tät des ver­blei­ben­den Lebens schien ihnen oft zweitrangig.

Schwarzweißfotografie: Direktorenzimmer der zweiten medizinischen Klinik der Charité, um 1910

Abb. 7/7 Charité, II. Med. Klinik: Direk­toren­zimmer, um 1910

1987

Behandlung eines
Prostatakarzinoms

Die Krankengeschichte
von Alfred P.

1987 drängte Gertrud P. ihren Mann, zum Urolo­gen zu gehen.

Seit geraumer Zeit hatte Alfred P. Schwie­rig­kei­ten beim Wasser­lassen.

Er wiegelte ab. Das liege am Älter­werden, man müsse nicht mit jeder Lappa­lie zum Arzt.

Als die Beschwer­den stärker wurden, suchte Alfred P. schließ­lich einen Fach­arzt auf. Dieser über­wies ihn an eine Klinik für Urolo­gie. Man fand einen bös­arti­gen Tumor der Vor­steher­drüse (Prostata­krebs), die häu­fig­ste Krebs­art beim Mann.

Schwarzweißfotografie: Älteres Ehepaar, von 1981

Abb. 1/5 Älteres Ehe­paar, 1981

Die Diagnose wurde Alfred P. mitgeteilt.

Der Uro­loge klärte ihn über die Erkran­kung auf und infor­mierte aus­führ­lich über die ver­schie­denen Thera­pie­for­men und deren Neben­wirkungen.

Die Bestim­mung des Tumor­stadiums ergab:
Primär­tumor von zuneh­men­der Größe, kein Nach­weis von Lymph­knoten­befall und Meta­sta­sen. Der all­ge­meine Gesund­heits­zu­stand des Patien­ten war gut; seine durch­schnitt­liche Lebens­erwar­tung betrug noch etwa 10 Jahre.

Auf­grund dieser Merk­male riet der Uro­loge zu einer vollstän­digen Ent­fer­nung der Vor­ste­her­drüse. Alfred P. erbat sich Bedenkzeit.

Medizinische Zeichnung: Abtrennung Prostata, von 1991

Abb. 2/5 Medi­zin­ische Zeich­nung: Ab­tren­nung Prostata, 1991

Ein Freund riet, einen Spezia­listen für alter­native Krebs­medizin aufzusuchen.

Alfred P. ging zu einem bekann­ten Chirur­gen, der die „Krebs-Angst“ und die „Rabiat-Strate­gie“ bei der Behandlung von Prostata­krebs ent­schie­den ablehnte.

Er ver­trat die Ansicht, bös­arti­ger Krebs sei „eine Krank­heit der Seele“ und eine „bio­logi­sche Gottes­strafe“ für jahr­zehnte­lange Sünden gegen sich selbst.

Der Chirurg lud Alfred P. mit seinen Ange­höri­gen zu einem aus­führ­lichen Gespräch und riet ferner zu Ent­gif­tungs­pro­zedu­ren, Frei­luft-Nackt-Bade-Kuren und mehr Lebens­ge­nuss.

Buch-Cover, Julius Hackethal, Keine Angst vor Krebs, Ullstein Sachbuch, 1987

Abb. 3/5 J. Hackethal trat für eine alter­native Krebs­medizin ein.

Alfred P. entschied sich für die radi­kale Prostatektomie.

Ein erfahre­ner Chirurg ent­fernte die Pro­stata, die Samen­blase und die Samen­leiter.

Nach der Ope­ra­tion konnte Alfred P. zunächst den Harn nicht gut hal­ten und bekam keine Erek­tion mehr. Beides bela­stete ihn.

Doch bei ihm waren die OP-Folgen nur tem­po­rär: Nach drei Mona­ten hatte er wieder eine Erek­tion, und nach ein­ein­halb Jahren konnte er auch den Harn­ab­gang wieder gut kon­trol­lieren.

Schwarzweißfotografie: OP-Team bei der Operation, von 1996

Abb. 4/5 OP-Team bei der Ope­ration, 1996

Geholfen hat Alfred P. der Aufen­thalt in einer Rehabilitations­klinik.

Hier wurde er medi­zi­nisch und psycho­lo­gisch betreut. Er lernte, mit den ope­rations­beding­ten Ein­schrän­kun­gen umzu­gehen. Und er traf Patien­ten, mit denen er sich aus­tauschen konnte. Das machte ihm Mut.

Solche Nach­sorge­klini­ken waren Neue­run­gen, die in der Nach­kriegs­zeit zuerst in der DDR und später auch in der BRD ein­gerich­tet wurden.

Maßgeblich dafür war die Ein­sicht, dass eine über­gangs­lose Rück­kehr aus dem Kranken­haus in den All­tag schwierig sei und den Erfolg der teuren Krebs­thera­pien gefähr­den könne.

Farbfotografie: Rehabilitationszentrum, von 1993

Abb. 5/5 Rehabi­li­ta­tions­zentrum, 1993

Nachweise

Die Kranken­geschichte von Auguste B.

Bilder

Abb. 1/4 Uni­versi­täts-Frauen­klinik, vor 1906.

Charité, Thiele, Bild-Nr. 001371

Abb. 2/4 Med. Zeich­nung, aus: E. Bumm, Zur Technik der Becken­aus­räu­mung beim Ute­rus­karzi­nom, in: Charité-Anna­len, hg. v. der Di­rek­tion des Königl. Charité-Kranken­hau­ses zu Berlin, 1907, S. 429-438, hier: S. 434.

Charité, Insti­tut für Geschich­te der Medi­zin und Ethik in der Medi­zin, Berlin

Abb. 3/4 Charité, Asepti­scher Opera­tions­saal, um 1910.

Charité, Lichte, Bild-Nr. 001460

Abb. 4/4 Operations­vor­be­rei­tung im Hör­saal der Chi­rur­gi­schen Klinik der Charité, vor 1905.

Charité, Lichte, Bild-Nr. 001455

Die Kranken­geschichte von Wilhelm K.

Bilder

Abb. 1/7 Charité, II. Med. Klinik, 1909/10.

Charité, Lichte, Bild-Nr. 001504

Abb. 2/7 Charité, Kranken­haus­auf­nahme, 1910.

Charité, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Berlin, Bild-Nr. 001506

Abb. 3/7 Röntgen­unter­suchung in Berlin, 1912.

Scherl/Süd­deutsche Zeitung Photo, REF 108677

Abb. 4/7 Charité, Aseptischer Ope­rations­saal, um 1910.

Charité, Lichte, Bild-Nr. 001488

Abb. 5/7 Charité, Kranken­saal, 1909.

Charité, Lichte, Bild-Nr. 000895

Abb. 6/7 Haupt­eingangs­halle der II. Med. Klinik, um 1910.

Charité, Lichte, Bild-Nr. 001492

Abb. 7/7 Charité, II. Med. Klinik: Direk­toren­zimmer, um 1910.

Charité, Lichte, Bild-Nr. 000887

Die Kranken­geschichte von Alfred P.

Bilder

Abb. 1/5 Älteres Ehepaar, 1981.

Werner Otto/Alamy Stock Foto, Bild-ID BA3RAW

Abb. 2/5 Med. Zeichnung: Ab­trennung Prosta­ta, aus: H. Froh­müller und M. Wirth, Die radi­kale Prosta­tekto­mie, in: R. Ackermann, J. E. Altwein, P. Faul (Hg.), Aktuel­le Thera­pie des Pro­stata­karzi­noms, Berlin u. a.: Springer-Verlag 1991, S. 100-121, hier: S. 110.

Staats­biblio­thek zu Berlin

Abb. 3/5 Julius Hackethal, Keine Angst vor Krebs, Frankfurt/M. und Berlin: Ullstein Verlag 1987.

Staats­biblio­thek zu Berlin

Abb. 4/5 OP-Team bei der Ope­ration im Klini­kum Nürnberg-Nord, 1996.

Karin Rummel/Süd­deutsche Zeitung Photo, REF 80120

Abb. 5/5 Le Noirmont, Centre Juras­sien de ré­adap­tation cardio­vascu­laire, (Reha-Zentrum, Jura, Schweiz), 1993.

ETH-Bibliothek Zürich, Bild­archiv / Fotograf: Zsolt, Somorjai / Com_FC19-2340-003 / CC BY-SA 4.0

Fotografie, schwarz-weiß, von 1918: Das Foto zeigt eine liegende Frau auf einer Holzliege. Ein Bestrahlungsgerät bestrahlt die linke Seite ihres unteren Leibs.   Die rechte Seite ist abgedeckt. Im Hintergrund sieht man einen Holzschrank und verschiedene Apparaturen.

Krebs bestrahlen

Seit den 1910er Jahren ergän­zen Strah­len­thera­pien die Opera­tio­nen. Röntgen- und Radium­strah­len waren wenige Jahre zuvor ent­deckt worden. Ohne zunächst die Wir­kung der energie­reichen Strah­len umfas­send zu ver­ste­hen, erprob­ten Medi­zi­ner deren the­ra­peu­tischen Nutzen sofort. Sie ent­deck­ten da­bei, dass bös­arti­ge Geschwü­re weich wur­den und schrumpf­ten, wenn man sie be­strahl­te. Doch wel­che Strah­len­dosis ver­moch­te einen Tu­mor zu zer­stö­ren und wie viel Strah­lung ver­trugen die Patien­tin­nen und Patien­ten? Wie traf man den Tumor gezielt? Und wie konnte man gesun­des Gewebe schüt­zen? Bis heute beschäf­ti­gen diese Fra­gen die Radio­onko­logie, die sich in der Nach­kriegs­zeit als eige­nes Fach etablierte.

Penis-
karzinom
1923
Brustkrebs-
rezidiv
1937
Gebärmutter-
halsbrebs
1953
Nachweise

Patient:innen-
Geschichten

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1923

Behandlung eines
Peniskarzinoms

Die Krankengeschichte
von Walter H.

Ärzte im „Strahlen­taumel“

In den ersten Jahr­zehn­ten des 20. Jahr­hun­derts arbeite­ten Medi­zi­ner, Phy­si­ker, Elektro­tech­ni­ker und Inge­nieure in der gesam­ten west­lichen Welt an der Ent­wick­lung der Strahlen­therapie.

Verbesserte Ver­fah­ren und Appa­rate soll­ten eine kon­trollierte Bestrah­lung von Tumo­ren auch in der Tiefe des Körpers ermög­lichen, ohne dabei zu viel gesun­des Gewebe zu zerstören.

Seit den 1920er Jahren war die Bestrah­lung ein fester Bestand­teil der Krebs­thera­pie. Die Radio­logie eta­blierte sich als selb­stän­dige Dis­ziplin. An den Klini­ken ent­stan­den eigene Bestrah­lungs­abteilungen.

Zwei illustrierte Werbeanzeigen für neue Bestrahlungsgeräte von 1921

Abb. 1/6 Werbe­anzeigen für neue Bestrah­lungs­geräte, 1921

Wurden die inno­vativen Behandlungs­metho­den vor­schnell ein­gesetzt?

Beim 52-jährigen Walter H. war dies mög­licher­weise der Fall: 1921 ver­spürte der Werbe­tex­ter ein Jucken am Glied und bemerkte ein Knöt­chen unter der Vorhaut.

Als die Beschwer­den nicht von selbst ver­schwan­den, suchte er einen Spe­zia­listen für Haut­krank­hei­ten auf. Dieser über­wies ihn nach eini­gen fehl­ge­schlage­nen Kuren ins Kranken­haus.

Dort erkann­ten die Ärzte bei Walter H. eine sel­tene Krebs­erkran­kung, ein Penis­karzinom.

Schwarzweißfotografie: Chirurgisches Universitätsklinikum der Charité

Abb. 2/6 Chirur­gi­sches Uni­ver­si­täts­klinikum der Charité

Die Chirurgen wollten ihren Patien­ten ungern ope­rie­ren.

Eine Amputa­tion des Penis hätte eine schwere Ver­stümme­lung bedeutet.

Deshalb befür­worte­ten sie in Abstim­mung mit den Radio­logen und wohl auch mit dem Patien­ten selbst eine Röntgen­bestrahlung.

Hoffnungsvoll stimmte die Medi­ziner, dass Kol­legen bei Haut­krebs mit der Bestrah­lung ein­drück­liche Erfolge erzielt hatten.

Schwarzweißfotografie: Radiologe in den 1920er Jahren

Abb. 3/6 Radio­loge in den 1920er Jahren

Aufgrund der teu­ren radio­akti­ven Sub­stan­zen war die Thera­pie kostspielig.

1921 betrug der Kassen­satz für eine sechs­malige Bestrah­lung 2.000 Reichsmark.

Personen, die nicht kranken­ver­sichert waren, wie viele Beamte und Selb­stän­dige, konnten sich die Thera­pie oft nicht leisten.

Als Selbständiger war Walter H. zwar nicht in einer gesetz­lichen Kranken­kasse. Er war aber frei­willig in einer pri­va­ten Kasse ver­sichert, die die Kosten der Strahlen­therapie übernahm.

Schwarzweißfotografie: Bestrahlungstechnik „Wintz-Kanone“, um 1925

Abb. 4/6 Bestrahlungs­technik „Wintz-Kanone“, um 1925

Der Tumor wurde mit einem modernen Tiefentherapie-Apparat bestrahlt.

Zunächst verkleinerte der Tumor sich deut­lich, doch nach 14 Tagen ging er nicht weiter zurück.

Die Therapie bewirkte einen „Röntgen­kater“. Der Pa­tient fühlte sich matt, er­brach stän­dig und hatte star­ken Durchfall und Harn­drang. Das Wasser­lassen wurde immer schmerz­haf­ter. Außer­dem „verjauchte“ der Tumor: Bakte­rien siedel­ten sich darauf an, er zerfiel und ver­strömte einen übel­riechen­den Geruch.

Die Ärzte ent­schie­den, Walter H. doch zu operie­ren. Wenig später ver­starb der Vater von vier Kindern im Krankenhaus.

Schwarzweißfotografie: Röntgenbestrahlung, um 1931

Abb. 5/6 Röntgen­bestrah­lung, um 1931

Rückblickend hielten die Ärzte ihre Therapie­entscheidung für falsch.

Eine sofortige Operation, so schrieb der behan­delnde Radio­loge in einem Fach­auf­satz, wäre für den Patien­ten ver­mut­lich von größe­rem Nutzen gewesen.

Im Anschluss hätte man ihn dann wohl mit einer höhe­ren Dosis bestrah­len müssen. Doch über die richtige Dosie­rung von Strah­len wisse man der­zeit noch zu wenig.

Solche mit Bedauern geäußerte Selbst­kritik findet man in Fach­publika­tio­nen der 1920er Jahre selten. Meistens wur­den geschei­terte Behand­lun­gen als Quelle neuen Wissens und als Vor­aus­set­zung dafür dar­ge­stellt, Krebs­thera­pien weiter zu optimieren.

Seite aus Hans Hartoch, Über das Peniscarcinom, 1923

Abb. 6/6 Hans Hartoch, Über das Peniscarcinom, 1923

Seite aus Hans Hartoch, Über das Peniscarcinom, 1923
1937

Therapie eines
Brust­krebs­rezidivs

Die Kranken­geschichte
von Minna N.

Anfang Oktober 1932 wurde Minna N. im Kranken­haus Beeskow bei Berlin operiert.

Ärzte hatten in ihrer lin­ken Brust einen walnuss­großen bös­arti­gen Tumor gefunden.

Um die 46-jäh­rige Patien­tin zu ret­ten, ent­schie­den sie sich wie damals üblich zu einem radi­ka­len opera­ti­ven Eingriff.

Sie ampu­tier­ten die Brust, ent­fern­ten dabei die Brust­drüse, die Haut und die Brustwarze.

Ansichtskarte aus Beeskow, um 1900

Abb. 1/5 Ansichts­karte aus Beeskow, um 1900

Vier Jahre später kehrte die Krank­heit zurück.

1936, mittler­weile regier­ten die Natio­nal­sozia­lis­ten in Deutsch­land, suchte Minna N. ihren Haus­arzt auf.

Ihr linker Arm war seit länge­rer Zeit geschwol­len. Als Massa­gen und eine Wärme­the­ra­pie nichts hal­fen, über­wies der be­un­ruhig­te Arzt seine Patien­tin an die Chirur­gische Uni­ver­si­täts­klinik in Berlin.

Dort bestätigte sich sein Ver­dacht: In der Brust­wand von Minna N. hatte sich ein Rezi­div gebil­det, und im Brust­korb gab es Metas­ta­sen. Der Krebs hatte sich von einer loka­len in eine syste­mische Krank­heit ent­wickelt und war nicht mehr heilbar.

Abbildung einer Überweisung an die Berliner Charité, 1937

Abb. 2/5 Überweisung an die Ber­liner Charité, 1937

Möglicherweise wurde Minna N. die Diagnose mitgeteilt.

Im National­sozialis­mus wurde die Ansicht popu­lä­rer, Patien­ten und Patien­tin­nen soll­ten „wahr­haf­tig“ und „sach­lich“ über ihre Krank­heit auf­geklärt werden.

Ärzte, so hieß es jetzt, sollten die Angst vor dem Ster­ben und vor dem Tod nicht mehr durch „schonen­des Belügen“ unterbinden.

Das Sterben sei die letzte Mut- und Bewährungs­probe eines „deutschen Menschen“, diese dürfe man ihm nicht durch man­gelnde Auf­klä­rung vor­ent­hal­ten. Manche hielten es aus diesem Grund sogar für falsch, Patien­ten und Patien­tin­nen Schmerz­mittel zu geben.

Einladung zu einer Sitzung, während der der Psychiater F. Künkel diesen Standpunkt vertrat.

Abb. 3/5 Psychiater F. Künkel ver­trat die An­sicht auf der Tagung.

Durch eine Strahlen­therapie sollte der Krank­heits­ver­lauf ver­lang­samt werden.

Deshalb unter­zog sich Minna N. am Röntgen-Radium-Insti­tut der Chirur­gi­schen Uni­ver­sitäts­klinik einer Strahlentherapie.

Die Neben­wirkungen waren nach Ein­schät­zung der Ärzte wenig belas­tend: „keine Übel­keit, kein Erbre­chen, Appe­tit u. Schlaf gut“, so steht es in der Patien­ten­akte. Ledig­lich die Haut sei in den Bestrah­lungs­feldern gerötet.

Aus einem etwas spä­teren Ver­merk erfah­ren wir jedoch, dass Minna N. zu einem Wie­der­vor­stel­lungs­termin im Juni 1938 nicht erschien, „da sie angeb­lich zur Erho­lung ver­reist sei.“

Bestrahlungsprotokoll aus der Patientenakte, von 1937

Abb. 4/5 Bestrahlungs­protokoll aus der Pa­tienten­akte, 1937

Bestrahlungsprotokoll aus der Patientenakte, von 1937

Am 2. März 1940 verstarb Minna N.

Wie es der Patien­tin zwischen der ver­säum­ten Kon­trolle im Juni 1938 und ihrem Tod erging, ist der Patien­ten­akte nicht zu entnehmen.

Insgesamt ver­schlech­terte sich im National­sozia­lis­mus die Ver­sor­gung von unheil­baren und ster­ben­den Krebs­patien­ten dramatisch.

Ein Grund für diese Ent­wick­lung war die Über­zeu­gung, dass nur gesunde „Volks­genos­sen“ wert­voll seien. Außer­dem wurden ab 1939 vor­ran­gig „kriegs­wich­tige“ Män­ner und Frauen medizi­nisch behandelt.

Schwarzweißfotografie: Festakt in der Berliner Universitäts-Frauenklinik, 1941

Abb. 5/5 Festakt in der Berliner Uni­ver­sitäts-Frauenklinik, 1941

Ein Angehöriger beschrieb, was er 1940 auf der Schwer­kranken­station der Charité erlebte:

„Schon der Ein­tritt muss den Kran­ken ent­set­zen, in welches Ver­lies er hier gebracht wird. […]

Der Abort in der Männer­abtei­lung ist nur durch das für alle Geschlech­ter gemein­same Bade­zimmer zu erreichen. Vor diesem Bade­zimmer liegt der ein­zige Wirt­schafts- und Ab­stell­raum, in dem die ihrer Krank­heit zum Opfer gefal­le­nen Men­schen unter­gebracht werden müssen, bis sie abgeholt werden. […]

Es fehlt der beschei­den­ste Aufen­thalts­raum, […] wie über­haupt jeder Ver­such zu ver­mis­sen ist, […] den Kran­ken […] etwas Annehm­lich­keit und Gefällig­keit zu bieten.“

1953

Gebär­mutter­hals­krebs

Die Kranken­ge­schichte von Hilde W.

Ein Hilferuf erreicht das Czerny-Kranken­haus.

Im Mai 1953 schrieb die Tochter der Krebs­patien­tin Hilde W. an das renom­mierte Heidel­berger Kranken­haus für Strah­len­thera­pie, dass die Fami­lie die Mutter nicht länger zuhause pflegen könne.

Sie bat darum, die Schwer­kranke zurück in die Klinik brin­gen zu dür­fen, wo sie zuvor behandelt worden war.

Wie die meisten Fami­lien, die beengt wohn­ten und eine Pflege­rin nicht bezah­len konn­ten, war auch die Fami­lie von Hilde W. mit der Pflege überfordert.

Brief der Tochter an das Krankenhaus, Mai 1953

Abb. 1/6 Schreiben der Toch­ter an das Kran­ken­haus, Mai 1953

Brief der Tochter an das Krankenhaus, Mai 1953

Ein Jahr zuvor hatte nichts darauf hin­gewie­sen, dass Hilde W. krank war.

Im Februar 1952 hatte die 41-Jäh­rige fest­gestellt, dass sie schwan­ger war. Sie war alles andere als glück­lich darüber.

Ihr Mann war seit Mona­ten arbeits­los, und von ihren zehn Kin­dern waren noch fünf im schul­pflich­ti­gen Alter.

Zwar erwog Hilde W. einen Schwanger­schafts­abbruch. Doch dieser war ille­gal. Frauen, die sich für einen Abbruch ent­schie­den, mussten mit bis zu fünf Jah­ren Haft rechnen.

Schwarzweißfotografie: Sozialer Wohnungsbau, BRD, 1950er Jahre

Abb. 2/6 Sozialer Woh­nungs­bau, BRD, 1950er Jahre

Die Schwangerschaft verlief ohne Kom­plika­tionen.

Den leichten Dauer­blutungen schenkte Hilde W. keine Beach­tung.

Am 22. No­vem­ber 1952 setz­ten Wehen mit stär­ke­ren Blutungen ein. Hilde W. meinte, der Ge­burts­ter­min sei gekommen und begab sich ins städtische Kran­ken­haus im pfälzi­schen Pirmasens.

Die Geburt zog sich hin. Schließ­lich entschieden die Ärzte, das Kind mit einem Kaiser­schnitt zu holen.

Schwarzweißfotografie: Kreiß- und Operationssaal, um 1960

Abb. 3/6 Kreißsaal, Operations­saal, um 1960

Während der Opera­tion erkannte der Chirurg, warum die Geburt ins Stocken geraten war.

Hilde W. hatte Gebär­mutter­hals­krebs. Der Krebs hatte sich bereits in die benach­bar­ten Organe aus­ge­brei­tet und behin­derte die Geburt.

Die Ärzte hol­ten das Kind, ein lebens­fähi­ges Mädchen, und ent­fern­ten einen Teil des Tumors. Mehr konn­ten sie für die Patien­tin nicht tun.

Zur Nach­be­strah­lung wurde Hilde W. ins Czerny-Kranken­haus für Strah­len­behand­lung über­wie­sen. Dass sie Krebs hatte, wusste sie nicht. In der Bun­des­repu­blik wurde die Dia­gnose den Patien­ten und Patien­tin­nen zu dieser Zeit in aller Regel nicht mit­geteilt.

Schwarzweißfotografie: Samariterhaus im Czerny-Krankenhaus, erbaut 1905

Abb. 4/6 Sama­riter­haus im Czerny-Kranken­haus, erbaut 1905

Der Tumor wurde von außen mit Röntgen­strahlen behandelt.

Darüber hinaus bekam Hilde W. Ein­lagen mit radio­ak­ti­vem Kobalt in Scheide und Blase ein­geführt.

Die Kombi­na­tion von inne­rer und äuße­rer Bestrah­lung war schon in den 1920er Jah­ren üblich. Dadurch soll­ten die Krebs­zellen effek­tiv zer­stört und gleich­zei­tig gesun­des Gewebe mög­lichst geschont werden.

Wenige Jahre spä­ter suchte man das gleiche Ziel mit grund­legend neuen Bestrah­lungs­tech­ni­ken und neuen Gerä­ten zu errei­chen: den Beta-, Zyklo- oder Gammatronen.

Schwarzweißfotografie: Vorstellung eines Betatron, Röntgenkongress, London, 1950

Abb. 5/6 Betatron Vor­stel­lung, Röntgen­kon­gress, London, 1950

Hilde W. wurde im Heidel­berger Kranken­haus nicht erneut aufgenommen.

Stattdessen brachte ihre Fami­lie sie ins städ­tische Kranken­haus in Pirmasens, wo die Patien­tin im August 1953 verstarb.

In der Bundes­repu­blik wurden in den 1950er Jahren – anders als in der DDR – keine Pflege­heime für Schwer­kranke und Ster­bende eingerichtet.

In der BRD soll­ten die Ster­ben­den zuhause durch (weib­liche) Ange­hörige gepflegt werden. Diese Ziel­vor­stel­lung wurde Anfang der 1960er Jahre durch eine ent­sprechende Gesetz­gebung und staat­liche Unter­stüt­zungs­zah­lun­gen abgesichert.

Mitteilung ans Czerny-Krankenhaus, Mai 1958

Abb. 6/6 Mit­tei­lung ans Czerny-­Kran­ken­haus, Mai 1958

Nachweise

Die Kranken­ge­schichte von Walter H.

Bilder

Abb. 1/6 Zwei Werbe­anzeigen für Bestrahlungs­geräte, aus: Strahlen­therapie, Bd. XXI, 1921, Berlin/Wien: Verlag Urban & Schwarzenberg.

Staats­biblio­thek zu Berlin

Abb. 2/6 Ehe­mali­ges chirur­gisches Uni­ver­si­täts­kli­nikum der Charité in der Ziegel­straße, un­da­tiert.

Charité, Fleischbein-Brinkschulte, Bild-Nr. 002968

Abb. 3/6 Guido Holzknecht (1972-1931), öster­reichi­scher Arzt, Pionier der Radio­logie, Univ. Klinik Wien, 1920er Jahre.

Charité, Insti­tut für Ge­schich­te der Medi­zin und Ethik in der Medi­zin, Bild-Nr. 020054

Abb. 4/6 Bestrah­lungs­tech­nik „Wintz-Kanone“ und erste Maß­nah­men des Strahlen­schut­zes, um 1925.

Nach­kommen des Ver­lags­inha­bers Krüger/­Uni­ver­si­täts­archiv Er­langen, Sig. E5,3 Nr. 142

Abb. 5/6 Röntgen­bestrah­lung, Foto­gra­fie aus der Aus­stel­lung „Kampf dem Krebs“, um 1931.

Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Inv.-Nr. DHMD 2001/247.135

Abb. 6/6 Hans Hartoch, Über das Penis­carci­nom mit be­sonde­rer Berück­sichtig­ung der Strahlen­thera­pie, Köln: Kerschgens 1923.

Staats­biblio­thek zu Berlin

Die Kranken­geschichte von Minna N.

Bilder

Abb. 1/5 Bildpost­karte aus Bees­kow (Branden­burg), um 1900.

Berliner Medizin­histo­risches Museum der Charité

Abb. 2/5 Über­wei­sung an die Ber­li­ner Charité, Doku­ment aus einer Patienten­akte, Ge­schwulst­klinik, 1937.

Charité, Institut für Ge­schich­te der Medi­zin und Ethik in der Medi­zin, Berlin

Abb. 3/5 Ein­la­dung zur Tagung der Arbeits­gemein­schaft zwischen Ärz­ten und Geist­lichen am 2.9.1937.

Landes­archiv Berlin, A Rep. 003-04-03, Nr. 55

Abb. 4/5 Bestrah­lungs­proto­koll aus einer Pa­tien­ten­akte der Ge­schwulst­klinik, 1937.

Charité, Insti­tut für Ge­schich­te der Medi­zin und Ethik in der Medi­zin, Berlin

Abb. 5/5 Fest­akt in der Ber­liner Univer­sit­äts-Frauen­klinik an­läss­lich des 70. Geburts­tags des Gynä­ko­logen Walter Stoeckel (1871-1961), 1941.

Charité, Institut für Ge­schichte der Medi­zin und Ethik in der Medizin

Die Kranken­ge­schichte von Hilde W.

Bilder

Abb. 1/6 Schreiben an das Czerny-­Kranken­haus für Strah­len­thera­pie v. 10.5.1953.

Univer­si­täts­archiv Heidel­berg, Acc. 14/02, Nr. 17342.

Abb. 2/6 Münster-Innen­stadt, Wieder­auf­bau­ge­mein­schaft Blumen­straße, be­treut durch die GAGFAH - Gemein­nüt­zige Aktien­gesell­schaft für Ange­stell­ten-Heim­stätten, um 1955.

Sammlung LVA Westfalen: Wohnungs­not und Wohn­bau­för­de­rung in den 1920er-1950er Jahre, Archiv-Nr. 03_3865

Abb. 3/6 Univer­si­täts-Frauen­klinik Berlin, Kreiß­saal - Ope­ra­tions­saal mit Unter­suchungs­liege, 1960.

Charité, Thiele, Bild-Nr. 001884

Abb. 4/6 Samariter­haus im Czerny-Kran­ken­haus, erbaut 1905/06.

Univer­si­täts­archiv Heidelberg/­Bild­archiv Pos I 03761

Abb. 5/6 Queen Elizabeth (Queen Mum) betrach­tet das Beta­tron auf dem Inter­na­tiona­len Röntgen­kon­gress in London, 1950.

Siemens Healthineers Historical Institute, A 54_13

Abb. 6/6 Mit­tei­lung eines Standes­beam­ten über den Tod der Pa­tien­tin an das Czerny-Kran­ken­haus für Strah­len­behand­lung vom 9.5.1958.

Uni­ver­si­täts­archiv Heidel­berg, Acc. 14/02, Nr. 17342

Fotografie, schwarz-weiß, von 1991: Das Foto zeigt einen, in einem Krankenhausbett liegenden Mann, der den Kopf nach rechts geneigt hat. Rechts steht eine Frau im weißem Kittel, die eine Infusion einstellt.

Chemo­­therapie

Bereits um 1900 such­ten Medi­zi­ner nach Medi­ka­men­ten gegen Krebs. Ange­regt durch die spek­ta­ku­lä­ren Erfolge der Bak­te­rio­lo­gie expe­ri­men­tier­ten sie mit ver­schie­de­nen thera­peu­ti­schen Stof­fen, um Krebs­zel­len zu bekäm­pfen. Doch erst Beobach­tun­gen zur Wir­kung von Chemie­waf­fen im Ersten und Zwei­ten Welt­krieg lenk­ten den Blick auf Sub­stan­zen, die nicht Krank­heits­erre­ger, son­dern mensch­liche Zellen angriffen und deren Wachs­tum hemmen konn­ten. Nach 1945 wurde in den USA in groß­angeleg­ten Pro­gram­men in dieser Rich­tung weiter geforscht, und ver­schie­dene Stoff­grup­pen wurden erfolg­reich auf ihre krebs­bekäm­pfende Wir­kung getestet.

Unter­sucht wur­den Chemo­the­ra­peu­tika zunächst bei der Behand­lung von Leu­kä­mie und Lym­pho­men. Beide Krebs­arten lie­ßen sich nicht lokal begrenzt behan­deln, und für Leu­kä­mie gab es in den 1950er Jahren noch gar keine Hei­lungs­aus­sicht. Des­halb setzte man große Hoff­nun­gen auf die neuen Krebs­medi­ka­mente, die im gan­zen Kör­per wirk­ten. In den 1960er und 1970er Jahren konn­te mit den Chemo­thera­peu­tika, die mei­stens als Infu­sion gege­ben wurden, zunächst nur der Tod von Krebs­patient:­in­nen hin­aus­gezö­gert werden. Doch in den folgen­den Jahr­zehn­ten ver­bes­ser­ten sich die Hei­lungs­chancen durch die neuen Medi­ka­mente deut­lich. Für die Patien­tin­nen und Patien­ten bedeute­ten sie zwar Hoff­nung auf Hei­lung, aber auch erheb­liches Lei­den, ver­schlech­terte sich doch das Befin­den der meisten durch die Medi­ka­mente zunächst dramatisch.

Leukämie
1970
Brustkrebs
1987
Lungenkrebs
1990
Nachweise

Patient:innen-
Geschichten

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1970

Leukämie wird
behandelbar

Die Krankengeschichte
der vierjährigen Regina

Regina war kein Sorgen­kind.

Sie kam 1966 auf die Welt und ent­wickelte sich zu einem auf­geweck­ten, leb­haf­ten Mäd­chen. Sie ging gerne in den Kinder­garten und war prak­tisch nie krank.

Als Regina fast fünf Jahre alt war, klagte sie immer häu­fi­ger über Müdig­keit und Schmer­zen in den Gelen­ken. Sie mochte nicht mehr spie­len und hatte keinen Appetit.

Die Eltern such­ten mit ihrer Toch­ter den Haus­arzt auf, der eine sofor­tige Unter­suchung in der städ­ti­schen Kinder­klinik anordnete.

Schwarzweißfotografie: Mutter mit Kindern, 1963

Abb. 1/6 Mutter mit Kindern, 1963

In der Klinik stellten die Ärzte fest, dass Regina an „Blut­krebs“ erkrankt war.

Sie hatte eine Form aku­ter Leu­kä­mie, eine Krebs­erkran­kung, bei der die Blut­bildung im Knochen­mark gestört ist.

Die Dia­gnose wurde den Eltern mit­geteilt. Doch sie verstanden den behan­deln­den Arzt nicht rich­tig und frag­ten auch nicht weiter nach.

Von den neuen Krebs­medi­ka­men­ten, mit denen man erstmals den Ver­lauf der Krank­heit ver­zö­gern, in sel­te­nen Fällen sogar heilen konnte, hatten sie noch nie etwas gehört.

Schwarzweißfotografie: Kinderklinik, 1969

Abb. 2/6 Kinder­klinik, 1969

Sechs Wochen musste Regina im Kranken­haus bleiben.

Sie erhielt eine aggres­sive Chemo­thera­pie, die aus einer Kom­bi­na­tion ver­schie­de­ner Medi­ka­mente bestand.

Die Neben­wir­kun­gen waren gra­vier­end: Die Vier­jäh­rige musste sich stän­dig erbrechen, hatte schwere Durch­fälle, mochte nichts essen und bekam einen lebens­bedroh­lichen Infekt.

Während dieser Zeit besuch­ten ihre Eltern sie nicht. Der Arzt hatte von Besuchen abge­raten, um das Kind nicht auf­zu­regen, und die Eltern befolgten seinen Rat.

Schwarzweißfotografie: Kinderkrankenhaus, Krankenzimmer, undatiert

Abb. 3/6 Kinder­kran­ken­haus, Kranken­zimmer, un­datiert

Für die Vier­jährige war es die erste Tren­nung von den Eltern.

Sie hatte Heim­weh und wurde immer stiller. Nach­dem ein eben­falls an Leu­kämie erkrank­ter Junge, mit dem sie sich ange­freun­det hatte, ver­starb, wollte sie mit keinen ande­ren Kindern in der Klinik mehr spielen.

Als die Eltern ihr Kind nach der erfolg­rei­chen Thera­pie im Kranken­haus abhol­ten, erkann­ten sie es kaum wieder:

Leib und Gesicht waren auf­ge­dun­sen, die Haare aus­gefallen. Das früher so fröh­liche Mädchen war ernst, man durfte es nicht alleine lassen, und im Schlaf schrie es.

Schwarzweißfotografie: Kinderklinik, Aufenthaltsraum, undatiert

Abb. 4/6 Kinder­klinik, Aufen­thalts­raum, undatiert

Nach dem Kranken­haus­aufen­thalt folg­ten ambu­lante Kontrollen.

Zwei Jahre lang fuhr die Mutter alle sechs Wochen mit Regina ins Kranken­haus zur Kon­troll­untersuchung.

Dort ent­nahm man dem Mädchen Knochen­mark, um zu über­prüfen, ob die Krank­heit zurück­kam.

Damit sie die Schmerzen der Knochen­mark­punk­tion nicht spürte, erhielt Regina eine Gas­nar­kose. Jedes Mal wehrte sie sich mit aller Kraft gegen die Ge&sichts­maske. Sie hatte kurz vor der Anäs­the­sie immer das Gefühl, in einen tie­fen dunklen See zu fallen.

Erfahrungsbericht einer 10-Jährigen über die Nachsorgeuntersuchungen, Detail

Abb. 5/6 Eine 10-Jährige beschreibt Nach­sorge­unter­suchung

Erfahrungsbericht einer 10-Jährigen über die Nachsorgeuntersuchungen

Der Anästhe­sist kritisierte Reginas Mut­ter für das Ver­hal­ten des Kindes:

Angst und Unsicher­heit der Mut­ter würden sich auf das Kind über­tragen, das sich nur des­halb so wild gebärde.

Es sei die Auf­gabe der Eltern, die Kin­der rich­tig vor­zu­berei­ten, dann seien diese auch bereit, den Ein­griff auf sich zu nehmen.

Weder dem Kind noch den Eltern wurde psycho­logi­sche Unter­stüt­zung ange­bo­ten, ob­wohl in der Fach­lite­ra­tur bereits auf deren Bedeu­tung für den Behand­lungs­erfolg hin­gewie­sen wurde.

Schwarzweißfotografie: Eingang einer Kinderklinik

Abb. 6/6 Ein­gang einer Kinder­klinik

Bei Regina kam die Leu­kämie nicht zurück.

Regina gehörte zu den ein bis zwei Pro­zent an akuter Leukämie erkrank­ten Kindern, die Anfang der 1970er Jahre mit Hilfe der neuen Chemo­thera­peu­tika geheilt werden konnten.

Bei ande­ren Kin­dern bewirk­ten die neuen Medi­ka­mente, dass sich die Symp­tome der Krank­heit zeit­weilig zurück­bil­deten und der Tod hinaus­ge­zögert wurde.

In den fol­gen­den Jahr­zehn­ten stie­gen die Hei­lungs­raten. Doch geheilt hieß nicht immer gesund: Viele Über­lebende litten als Erwach­sene an behand­lungs­beding­ten Spät­folgen wie Stoff­wechsel­störun­gen, Organ­schäden, Unfrucht­bar­keit oder Angst­zuständen.

1987

Arzneimittelstudie in der DDR

Die Krankengeschichte von Karin S.

Karin S. hatte keine Geduld mehr.

Die Krank­heit dauerte schon so lan­ge: Im Sep­tem­ber 1986 hatten ihr Ärzte der Ost-Berliner Frauen­klinik der Charité mit­geteilt, man habe einen bös­arti­gen Tumor (Mamma­karzi­nom) in ihrer rech­ten Brust gefunden.

Die Brust wurde ampu­tiert. Nach­dem die Wunde ver­heilt war, erhielt Karin S. Bestrahlungen.

Im Juli 1987 rieten ihr die Ärzte zu einer Chemo­thera­pie, weil sich in der Leber Metas­ta­sen gebil­det hatten.

Schwarzweißfotografie: Universitäts-Frauenklinik Ost-Berlin, um 1980

Abb. 1/5 Univer­sitäts-Frauen­klinik Ost-Berlin, um 1980

Einmal in der Woche musste Karin S. „an den Tropf“.

Jedes Mal schaute sie zu, wie das Zyto­sta­tikum über den Infu­sions­schlauch in ihre Arm­vene floss. Das Mittel sollte die sich schnell tei­len­den Zellen abtöten.

Das „Gift“ machte sie schreck­lich müde. Gleich­zeitig schlief sie schlecht, konnte sich nicht kon­zen­trieren und kaum lesen. Nach den Infu­sio­nen musste sie oft erbrechen.

Und es schien ihr, dass das Mittel auch ihren Mut, ihre Lebens­ener­gie und ihr Glücks­empfin­den auslöschte.

Schwarzweißfotografie: Infusionsflasche und -ständer für die Chemotherapie am Zentralinstitut für Krebsforschung, 1991

Abb. 2/5 Chemo­thera­pie (Zentral­institut für Krebs­forschung)

Die frühen Morgen­stunden waren die schlimmsten.

Dann erwachte sie aus ihren Träu­men, und Angst stieg in ihr auf. Nie­mand, da war sie sich sicher, könne das Ent­setzen jemals ver­stehen, der es nicht selbst erlebt hatte.

Vor ihrer Familie ver­stellte sie sich und spielte Heiter­keit vor. Sie merkte jedoch, wie ihr Mann gele­gent­lich mit den Tränen kämpfte.

Mühe machten ihr Men­schen, die ihrem Blick aus­wichen oder die pro­phe­zeiten, es werde alles gut, wenn sie es nur richtig wolle.

Schwarzweißfotografie: Universitäts-Frauenklinik, Krankenhausflur, um 1980

Abb. 3/5 Universitäts-Frauen­klinik, Kranken­hausflur, um 1980

Das Medikament, das Karin S. bekam, kam aus dem Westen.

Eine Ärztin hatte Karin S. gefragt, ob sie an einer klinischen Arznei­mittel­studie teil­neh­men wolle.

Die Studie sollte die thera­peu­tische Wirk­sam­keit und Ver­träg­lich­keit eines noch nicht zuge­las­senen Zytos­tati­kums aus der Bundes­repu­blik prüfen.

Karin S. wurde auch über Neben­wirkun­gen und mög­liche Kom­pli­ka­tio­nen auf­geklärt. Sie wil­ligte sofort ein und hoffte, das neue Mittel bringe den Durch­bruch in der Thera­pie. Das tat es nicht, doch es ver­län­gerte ihr Leben um einige Monate.

Schwarzweißfotografie: Universitäts-Frauenklinik, Sprechzimmer, um 1985

Abb. 4/5 Uni­ver­si­täts-Frauen­klinik, Sprech­zimmer, um 1985

Westdeutsche Pharma­firmen gaben eine Reihe von Studien in der DDR in Auftrag.

Im Bereich der Onko­logie waren es zwischen 1961 und 1990 nach­weis­lich 44 Stu­dien. Die Firmen schätz­ten das zen­tra­li­sierte Gesund­heits­system der DDR, das Durch­führung und Aus­wertung der Studien beschleunigte.

Die DDR-Regie­rung kam durch die Auf­träge zu West-Devisen, da sie die Studien­hono­rare erhielt, nicht die betei­lig­ten Patien­ten und Ärzte.

Die Ärztin­nen und Ärzte konn­ten zu Tagun­gen im Westen reisen, erhiel­ten kosten­lose Prüf­medi­ka­mente west­deutscher Her­kunft und bis­weilen auch in der DDR nicht ver­füg­bare Medizintechnik.

Schwarzweißfotografie: Zentralinstitut für Krebsforschung, Ost-Berlin, 1991

Abb. 5/5 Zentral­institut für Krebs­forschung (ZFI), Ost-Berlin

1990

Behandlung von
Lungenkrebs

Die Krankengeschichte
von Axel T.

Angespannt saß Axel T. im Juni 1990 im Kor­ri­dor der Uni­versi­täts­klinik.

Der 64-Jährige war­tete auf seinen Ter­min bei der Onko­login.

Ihn quälte Angst, und er spürte Druck im Magen. Er kam sich vor wie ein Schuldi­ger, der auf sein Urteil wartet.

Axel T. ermahnte sich, ruhig zu werden. Gleich würde er gut auf­passen müssen, um alles richtig zu ver­stehen. Viel­leicht müsste er auch wich­tige Ent­schei­dun­gen treffen.

Farbfotografie: Korridor mit Wartezimmer, undatiert

Abb. 1/6 Korridor mit Warte­zimmer, undatiert

Dem Gespräch waren etliche dia­gnos­tische Unter­suchun­gen vorausgegangen:

neben der kon­ven­tio­nel­len Röntgen­unter­suchung eine Com­puter­tomo­gra­phie – ein bild­geben­des Ver­fah­ren, das die räum­lichen Dimen­sio­nen des Tumors sicht­bar machte;

eine mikro­sko­pische Unter­suchung der Zellen aus der Lungen­schleim­haut sowie eine Lungen­spiege­lung (Broncho­sko­pie), dabei ent­nahm man Gewebe­proben für weiter­gehende Ana­lysen aus der Lunge;

schließlich auch noch eine Spiege­lung des mitt­leren Brust­fell­raumes (Media­stinos­kopie), um zu unter­suchen, wie weit sich der Lungen­tumor aus­gebrei­tet hatte.

Farbtotografie: Computertomograph, um 1988

Abb. 2/6 Computer­tomo­graph: SOMATOM Plus, um 1988

Die Onkologin infor­mierte Axel T., dass er ein klein­zelliges Lungen­karzinom habe.

Sie erläuterte, dass Lungen­krebs mit­tler­weile eine der häu­fig­sten Krebs­er­kran­kun­gen in den In­du­strie­staa­ten sei.

Wach­sen­der Ziga­ret­ten­kon­sum, Umwelt­gifte, der Um­gang mit gewis­sen Chemi­ka­lien und Mine­ral­stof­fen, Ernäh­rung und gene­ti­sche Fak­to­ren würden nach dem gegen­wärti­gen Wis­sens­stand das Erkran­kungs­risiko steigern.

Sachlich klärte sie ihn auf: Der schnell wach­sende Krebs mit hoher Zell­tei­lungs­rate lasse wenig Hoff­nung auf Heilung zu. Es gebe aber The­ra­pien, mit denen sich Lebens­zeit gewinnen lasse.

Lungenkrebs, CT-Scan eines 67-Jährigen, undatiert

Abb. 3/6 Lungenkrebs, CT-Scan eines 67-Jäh­rigen, undatiert

In Anbetracht der Dia­gnose empfahlen die Ärzte eine Kombi­nations­therapie.

In drei Zyklen erhielt Axel T. vier ver­schiedene anti­kanze­röse Medikamente.

Unmittelbar nach der ersten Infu­sion war er eupho­risch gestimmt. Er ver­spürte so gut wie keine Neben­wir­kun­gen. Die würden noch kommen, meinte sein Zim­mer­nach­bar, und er behielt Recht.

Durch­fälle, Magen­schmer­zen, wie er sie noch nie erlebt hatte, eine ent­zün­dete Mund­schleim­haut, bleierne Müdigkeit, Schwäche und Venen­brennen wurden für Axel T. alltäglich.

Farbfotografie: Charité Apotheke, Medikamentenproduktion, 1995

Abb. 4/6 Charité Apotheke, Medikamenten­produktion, 1995

Zwischen den Behand­lun­gen und in den Behand­lungs­pausen ging es ihm oft besser.

Wünsche, die sich reali­sie­ren ließen, wollte er nicht länger auf­schieben.

Er reiste mit seiner Frau noch einmal nach Grie­chen­land, freute sich, wenn die Kinder und Enkel zu Besuch kamen, und bemühte sich, kein Treffen mit seinen Jugend­freun­den zu verpassen.

Bei gutem Wetter ging er in den Park, spürte Sonne und Wind­hauch auf der Haut, amü­sierte sich über die Spatzen und aß regel­mäßig sein Lieblingseis.

Ansichtskarte, Akropolis, Griechenland

Abb. 5/6 Ansichtskarte, Akro­polis, Tempel für Pallas Athene

Ein Psychologe in der Klinik hatte ihm gera­ten, im Hier und Jetzt zu leben.

Dahinter stand die Über­legung, dass Schwer­kranke auf Hoff­nung ange­wie­sen seien. Wenn die große Hoff­nung auf Hei­lung aber ver­geb­lich sei, dann könne sich Hoff­nung auf das Nahe­lie­gende und Kleine rich­ten: etwa darauf, noch ein­mal an die See zu fahren.

Anfang der 1990er-Jahre spielte auch die Über­legung eine Rolle, dass hoff­nungs­volle Gedan­ken das Immun­sy­stem und damit den Krank­heits­ver­lauf posi­tiv beein­flus­sen könnten.

Schwerkranke sahen sich nun zuneh­mend dazu auf­ge­for­dert, Hoff­nung zu haben – eine Er­war­tung, die bis­weilen auch eine Zumu­tung sein konnte.

Farbfotografie: Älterer Mann im Grünen

Abb. 6/6 Älterer Mann im Grünen

Nachweise

Die Kranken­geschichte der vier­jährigen Regina

Bilder

Abb. 1/6 Mutter mit zwei Kindern, Zürich-Oerlikon, Ecke Schaff­hauser­strasse und Wallisellenstrasse, 1963.

ETH-Biblio­thek Zürich, Bild­archiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_L12-0072-0008-0038 / CC BY-SA 4.0

Abb. 2/6 Kinder­klinik: Kinder­spital, Zürich, 1969.

Bau­geschicht­liches Archiv Zürich/­Wolf-Bender’s Erben, Bild­code BAZ_118508

Abb. 3/6 Kinder­kranken­haus Wedding, Kranken­zimmer: Kranken­schwestern legen einen Bein­verband an, Kinder­patient mit Kopf­verband, undatiert.

Charité, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Bild-Nr. 009158

Abb. 4/6 Kinder­kranken­haus Wedding, Aufen­thalts­raum: Schwester mit mehreren Kindern spielend, undatiert

Charité, ZFA, Bild-Nr. 008948

Abb. 5/6 Eine Zehnjäh­rige beschreibt eine Nach­sorge­unter­suchung, aus: Petra Kelly (Hg.), Viel Liebe gegen Schmer­zen. Krebs bei Kindern, Reinbek: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. 1986.

Staats­biblio­thek zu Berlin

Abb. 6/6 Eingang einer Kinder­klinik, Zürich, erbaut 1939

Baugeschichtliches Archiv Zürich/­Wolf-Bender’s Erben, Bildcode BAZ_118569

Die Kranken­geschichte von Karin S.

Bilder

Abb. 1/5 Abb. 1/5 Eingang der Univer­sitäts-Frauen­klinik in Ost-Berlin, um 1980.

Charité, Institut für Ge­schichte der Medi­zin und Ethik in der Medi­zin, Berlin, Bild-Nr. 001428

Abb. 2/5 „Pharma­indu­strie teste­te Medika­mente an Pa­tien­ten in der DDR“, hier: Medi­ka­men­ten­tests in der Ex-DDR, Chemo­thera­pie­patient am Zen­tral­insti­tut für Krebs­for­schung bei Infu­sion, 11.1.1991 (Bild­aus­schnitt).

Berlin, Bundes­stif­tung zur Auf­arbei­tung der SED-Diktatur/­Klaus Mehner, Inv.-Nr.: 91_0111_GES_MedTest_21

Abb. 3/5 Univer­si­täts-Frauen­klinik, Korri­dor, um 1980.

Charité, Thiele, Bild-Nr. 001656

Abb. 4/5 Univer­si­täts-Frauen­klinik, Sprech­zimmer, um 1985.

Charité, Thiele, Bild-Nr. 001916Z

Abb. 5/5 „Pharma­indu­strie teste­te Medi­ka­mente an Pa­tien­ten in der DDR“, Zentral­insti­tut für Krebs­for­schung/­Aka­de­mie der Wissen­schaf­ten der DDR, 11.1.1991.

Berlin, Bundes­stif­tung zur Auf­ar­bei­tung der SED-Dik­ta­tur/­Klaus Mehner, Inv.-Nr.: 91_0111_GES_MedTest_23

Die Kranken­geschichte von Axel T.

Bilder

Abb. 1/6 „In an corri­dor there is a wait­ing room“ (Korri­dor mit Warte­zimmer), 3.2.2016.

Marcel Derweduwen/Alamy Stock Photo, Bild ID FGJWHW

Abb. 2/6 Computer­tomo­graph: SOMATOM Plus, um 1988.

Siemens Healthi­neers Histo­ri­cal Insti­tute, Bild-Nr. 3122 abx

Abb. 3/6 Lungen­krebs, CT-Scan eines 67-Jäh­rigen, undatiert.

Rajaaisya / Science Photo Library / Alamy Stock Fotos, Bild ID 2GYNGY

Abb. 4/6 Apotheke der Charité, Her­stel­lung von Medi­ka­men­ten, aus: Antje Müller-Schubert, Susanne Rehm, Caroline Hake, Sara Harten, Charité: Foto­gra­fischer Rund­gang durch ein Kran­ken­haus, be.bra Verlag: Berlin 1996.

Charité, Institut für Ge­schich­te der Medi­zin und Ethik in der Medi­zin, Berlin

Abb. 5/6 Bildpost­karte, Athènes, Le Parthenon, Post­karten­stempel 12.4.1951.

ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / Fel_052590-RE / Public Domain Mark

Abb. 6/6 Älterer Mann im Grünen („Alte Hasen: der Senior am Gestock“), 2.4.2013.

Jürgen Ritterbach/­Alamy Stock Foto, Bild-ID D5GDKE

Fotografie, schwarz-weiß, von 2022: Das Foto zeigt einen leeren schwarzen Raum. Im Vordergrund sieht man links ein Mikrophon zur Tonaufnahme und rechts einen leeren Stuhl.
Fotografie, schwarz-weiß, von 2022: Das Foto zeigt einen leeren schwarzen Raum. Im Vordergrund sieht man links ein Mikrophon zur Tonaufnahme und rechts einen leeren Stuhl.
Fotografie, schwarz-weiß, von 2022: Das Foto zeigt einen leeren schwarzen Raum. Im Vordergrund sieht man links ein Mikrophon zur Tonaufnahme und rechts einen leeren Stuhl.

Interviews

Von Krebs geheilt sein

Mit Krebs leben

An Krebs sterben

Auch im 21. Jahr­hundert hat sich die medizi­nische Versor­gung von an Krebs erkrank­ten Menschen weiter­ent­wickelt. Neben den klassi­schen Thera­pien – Opera­tion, Bestrah­lung, Chemo­thera­pie – gibt es heute viel­verspre­chende neue Behand­lungs­for­men wie die Immun­thera­pie oder die mole­ku­lar geziel­ten Thera­pien. Mit diesen Neue­rungen haben sich das Ver­ständ­nis von Krebs und der Umgang mit der Krank­heit ver­ändert. Die fol­gen­den zwölf Inter­views reflek­tieren diesen Wan­del aus unter­schied­lichen Sichtweisen.